Wer die entsprechenden
Statistiken gelesen hätte, konnte feststellen,
dass die Bürger der Bundesrepublik zu den reiselustigsten1 Nationen der Erde zählen. Das war nicht immer so. Nach der langen Isolierung während des Dritten Reichs und den darauffolgenden Jahren des anstrengenden Wiederaufbaus im eigenen Land bestand ein großer Nachholbedarf2. Zuerst vereinzelt, dann in immer größerer Zahl, begannen die Deutschen zu reisen. Zuerst in die westlichen und südlichen Nachbarländer, später in immer fernere Länder. In den siebziger Jahren hatte der Massentourismus alle Schichten der Bevölkerung erfasst.
dass die Bürger der Bundesrepublik zu den reiselustigsten1 Nationen der Erde zählen. Das war nicht immer so. Nach der langen Isolierung während des Dritten Reichs und den darauffolgenden Jahren des anstrengenden Wiederaufbaus im eigenen Land bestand ein großer Nachholbedarf2. Zuerst vereinzelt, dann in immer größerer Zahl, begannen die Deutschen zu reisen. Zuerst in die westlichen und südlichen Nachbarländer, später in immer fernere Länder. In den siebziger Jahren hatte der Massentourismus alle Schichten der Bevölkerung erfasst.
Daneben und bald im bewussten
Gegensatz dazu entwickelte sich das individuelle, alternative Reisen.
Besonders Jugendliche pflegen diese einfache, improvisierende Art des Reisens,
um andere Länder, andere Menschen und andere Lebensformen kennenzulernen.
In letzter Zeit lässt sich auch
wieder ein verstärktes Interesse an Ferien im eigenen Land, an Erholung in
vertrauter Umgebung beobachten.
„Irre, einfach irre”, fand
Susanne Wicht, eine Fünfundzwanzigjährige aus Frankfurt, ihre Reise nach
Spanien, und verrückt genug war es schon.
Weil es sie so überkam, hatte sie
sich mit Wolf und Lena aus Marburg zur Fiesta „San Fermin” in Pamplona
verabredet, Treffpunkt Cafe Tropicana. Und am nächsten Morgen ging es los, vom
Autobahn-Westkreuz aus, der bevorzugten Tramperstation3 im
Rhein-Main-Gebiet, zusammen mit Freundin Herta.
36 Stunden später, nach einem
Dutzend Etappen in schaukelnden Citroen-Enten und klapprigen Lieferwagen,
standen die beiden tatsächlich vor dem Tropicana, übermüdet und hungrig, aber pünktlich.
Doch das blieb dann auch ziemlich das einzige, was klappte.
Ein Dach überm Kopf war nicht
mehr zu bezahlen, nachdem den Mädchen im Festgewühl Bargeld und Papiere
gestohlen worden waren. Und die spanische Sonne, die doch bei Tag und Nacht
scheinen soll, machte sich selten. In Kälte und Regen kampierte Susanne samt
Freundin zumeist im Freien.
Freunde, die Verpflegung
beisteuerten, linderten die Lage ein bisschen; ein amerikanischer Tourist
spendierte eine Handvoll Dollar und Karten für Stierkämpfe. Nachts gab’s
Rotwein frei im Kreise anderer Tramper.
„Ganz schön chaotisch” verlief
schließlich auch die Rückreise. Nichts mehr zu essen, die letzte Cola wurde
geteilt. Herta hatte Fieber, und Susanne zertrümmerte beim Handgernenge mit
einem Lastwagenfahrer, der zu fingern anfing, ihre Armbanduhr.
Mit 1,10 Mark und zerrissenen
Jeans tauchte Susanne Wicht nach zehn Tagen wieder daheim auf, aß den Kühlschrank
leer und schlief dann 24 Stunden lang. Die Reise war, wie sie fand,
„wunder-wunderschön”.
Und es war eine Bilderbuchreise:
Hunderttausende junger Bundesbürger, oft minderjährig, haben sich auf den Trip
durch Europa gemacht, deutlich mehr als in den letzten Jahren. Rudelweise übersprenkeln
Touristen von seltsamer Gestalt die Strande und Metropolen, mit Schlafsack und
Rucksack, Schlotterjacke und Gummimatte.
Sie lagern, Jeans an Jeans, auf
den Wiesen am Eiffelturm oder in Rom auf der Spanischen Treppe; sie kauern
tagelang in den Gängen überfüllter Züge, und sie machen, wenn auch nur für ein
paar Stunden, einen Abstecher nach Casablanca, Bogeys Filmwelt mit der Seele
suchend.
Sie sind meist knapp bei Kasse
und leben von Weißbrot und Dosenbier, fallen gelegentlich unter die Räuber. Und
das Gros hat auch noch seinen Spaß daran.
Was besorgten Eltern schlechte Nächte
bereitet, bringt einer zunehmenden Zahl von Jugendlichen offenbar schieres
Vergnügen —Womöglich ein mobiler Protest gegen die verwaltete Welt, die auch
noch den Reisenden gängelt4, ganz sicher ein Ausgleich für soziale
Defizite, die sich an Arbeitsplätzen oder in Klassenräumen ergeben haben.
Texterläuterungen
1 reiselustig — той, що любить подорожувати
2 der Nachholbedarf — попит, викликаний відставанням
3 der Tramper — турист, що подорожує
на попутних машинах
4 gängeln — дріб'язково опікувати
І. Gliedern Sie den Text von dem Inhalt her in Abschnitte
und suchen Sie zu jedem Abschnitt eine Überschrift.
ІІ. Geben Sie den Inhalt des Textes kurz wieder.
ІІІ. Welche Satzteile passen zusammen?
1. Susannes Reise nach Spanien
2. Mit Wolf und Lena
3. Mit der Freundin Herta
4. Nach einer Reise von 36 Stunden
5. Weil ihnen die Papiere und Bargeld gestohlen worden waren.
6. Nach zehn Tagen kam Susanne Wicht.
7. Hunderttausende von jungen Leuten aus der
Bundesrepublik
8. Man sieht die jungen Leute
9. Oft haben die jungen Leute wenig Geld
10. Vielleicht ist diese Art zu reisen
|
fuhr Susanne vom Autobahn-Westkreuz ab.
kamen die beiden Mädchen in Pamplona an.
konnten die Mädchen kein Hotel bezahlen.
war verrückt genug.
wieder nach Hause.
in Rom, in Paris und in Casablanca.
hatte Susanne sich in Pamplona verabredet.
sind auf ähnliche Weise durch Europa gereist.
ein Protest gegen die verwaltete Welt und ein
Ausgleich für soziale Defizite.
und werden manchmal auch bestohlen.
|
IV. Wie steht das im Text?
1.
Aus einer plötzlichen Stimmung heraus hatte sie sich in Pamplona verabredet.
2.
Die Fahrt begann am nächsten Morgen.
3.
Ein Hotelzimmer war nicht mehr zu bezahlen.
4.
Die spanische Sonne war selten zu sehen.
5.
Sie wohnte unter freiem Himmel.
6.
Rotwein wurde umsonst angeboten.
7.
Sie kam nach zehn Tagen wieder zu Hause an.
8.
Den meisten macht es Vergnügen.
V. Stellen Sie sich vor:
Susanne Wicht schreibt einen Brief an eine Freundin und berichtet von ihrer
Reise.
VI. Überlegen Sie, warum Sie
gerne verreisen, mit welchem Verkehrsmittel und mit wem zusammen Sie am
liebsten auf Reisen gehen.
VII. Diskutieren Sie in Ihrer
Gruppe.
1.
Wie können sich bestimmte Verhaltensweisen zu Moden
entwickeln?
2.
Suchen junge Leute immer Abenteuer, und verändern sich
nur die Formen?
VIII. Diskutieren Sie Projekte
für eine Studienreise in ein fernes, fremdes Land, das Sie kennenlernen möchten.
Planen Sie verschiedene Alternativen. Notieren Sie die wichtigsten
Bedingungen, Möglichkeiten, Ziele.
IX. Erzählen Sie, welche
Vorteile, bzw. welche Nachteile bringt der Tourismus in unser Land, welche
Folgen hat er?