Althochdeutsche Dichtung als
Randeintrag in einem lateinischen Kodex: Das Stabreimgedicht vom Weltende
Muspilli, 9. Jh.
Dichtung im frühen Mittelalter
wurde nur mündlich verbreitet und ist aus diesem Grund fast vollständig
verloren gegangen. Verschriftlichung von Wissen bedeutete fast immer
gleichzeitig eine Übertragung ins Lateinische (z. B. germanische
Stammesrechte). Man kann erschließen, dass es aristokratische
Geschichtsüberlieferung (Heldenlieder, Erdzähllieder, Fürstenpreis), lyrische
„Folklore“ (Tanz-, Liebeslieder, Totenklagen, Zaubersprüche) gegeben hat. Nur
durch Zufall ist Einzelnes hiervon im klösterlichen Umfeld aufgeschrieben
worden. Beispiele sind die Merseburger Zaubersprüche, zwei germanische
Beschwörungsformeln, die zugleich als einziger niedergeschriebener Beleg für
die heidnische Religiosität im deutschen Sprachraum gelten. Wertvoll als Beleg
germanischer Heldendichtung ist das Hildebrandslied.
Die ältesten althochdeutschen
Schriftzeugnisse stammen aus dem 8. Jahrhundert und finden sich in einem
gänzlich anderen kulturellen Zusammenhang: im kirchlichen Einsatz der
Volkssprache als Missionierungshilfe und als Verständnishilfe für lateinische
Texte (z. B. Glossen). Ein literarisches Selbstbewusstsein bildete sich auf der
Grundlage lateinischer epischer Dichtung auch in der volkssprachlichen
Klosterliteratur aus, wie zum Beispiel in den zwei großen Bibelepen des 9.
Jahrhunderts, dem altsächsischen Heiland, noch im alten Stabreim, und im
Evangelienbuch des Ottfried von Weißenburg, im neuen, zukunftsweisenden
Endreimvers. Um das Jahr 1000 übersetzte und kommentierte Notkern in St. Gallen
philosophische Texte der Antike auf hohem philologischen Niveau ins
Althochdeutsche. Er darf als erster großer deutscher Prosaist gilt.
Im 11. Jahrhundert entstanden vor
allem religiös belehrende und ermahnende Texte in frühmittelhochdeutschen
Reimpaarversen. Heilsgeschichtliche Darstellungen, z. B. das Ezzolied (um 1065),
Legendendichtung, z. B. das Annolied (um 1077), alt- und neutestamentliche
Bibelepik (Genesis, Exodus, Leben Jesu), dogmatische Darlegungen,
eschatologische Dichtungen und Mariendichtung prägten die erste Phase dieser
Geistlichendichtung, die von einer religiösen Einflussnahme auf den Laienadel
bestimmt war.
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